Der Lärm der Zeit

Der Roman von Julian Barnes „Der Lärm der Zeit“ spielt in der Zeit des Stalinismus. Stalin wird fast immer als „die Macht“ dargestellt, es werden im übernatürliche Kräfte zugeschrieben. Er führte das Kommando über alles und war allgegenwärtig.

Im Namen der Revolution wurden Ingenieure, Generäle, Wissenschaftler und Musikologen in Lager gesteckt, zu Sklavenarbeit herangezogen, mussten frei erfundene Lügenbriefe unterschreiben und wurden hinterrücks erschossen. Jede Nacht wurden unzählige Menschen aus dem Bett gezerrt und wurden verhaftet. Die Partei hatte auch die Aufsicht über alle kulturellen Angelegenheiten übernommen. Die Künste sollten aus dem Würgegriff der Bourgoisie befreit werden, Arbeiter zu Komponisten ausgebildet werden. Musik musste für die Massen unmittelbar verständlich und erbaulich sein.

Die Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ von Dmitri Schostakowitsch wurde zunächst wegen ihrer angeblich chaotischen, neurotischen Musik und eklatanter künstlerischer und ideologischer Mängel verboten und später, nach Überarbeitung, nicht zur Wiederaufführung empfohlen. Man gab ihm einen Tutor an die Hand, der ihm helfen sollte, die Prinzipien des Marxismus Leninismus zu verstehen und bot ihm an, nach Eintritt in die Partei Vorsitzender des Komponistenverbandes zu werden.

In all den Jahren des Terrors war Schostakowitsch ein standhafter Mensch. Er hatte nie versucht, sich durch Eintritt in die Partei das Leben zu erleichtern. Zum Schluss ergab er sich und unterschrieb den Aufnahmeantrag. Er weinte, wollte Selbstmord begehen und sah sich als einen elenden Feigling an. Indem sie ihn leben ließen, hatten sie ihn umgebracht.

Was kann in diesen Verhältnissen dem Lärm der Zeit entgegengesetzt werden: Musik und Gemeinschaft. Wenn die Musik, die wir in uns tragen, die Musik unseres Seins stark und wahr und rein genug ist, um den Lärm der Zeit zu übertönen, wird sie im Laufe der Jahrzehnte in das Flüstern der Geschichte verwandelt. Krieg, Angst und Armut werden wahrscheinlich ver- gehen, aber ein Geräusch, das 3 Männer mit ihren nicht mehr ganz sauberen Wodkagläsern hervorgebracht hatten und das vom Lärm der Zeit rein war, würde alles überdauern. Und vielleicht kam es am Ende nur darauf an.

Auch wenn die Struktur des Buches mit sehr vielen Rückblendungen es nicht ganz einfach machte, dieses intensive und komplexe Buch durchzuarbeiten, wurde die Art des Autors zu schreiben von den Teilnehmerinnen als faszinierend empfunden. Beim mehrfachen Lesen kamen ihnen immer neue Gedanken, die kunstvollen Beobachtungen fanden besondere Beachtung. Die Teilnehmerinnen setzten sich mit der Bedeutung der Angst auseinander, mit der Frage, wie man in einem diktatorischen System als Künstler zurechtkommen kann und mit den Parallelen zur heutigen Situation in der Ukraine. Eine Teilnehmerin bat alle, sich erneut bewusst zu werden, was es bedeutet, in einem freien, demokratisch verfassten Land zu leben. DR. GABRIELE PEUS-BISPINCK