Ist die Pandemie vorbei?
Am 15. November 2022 konnte der CIVILCLUB Münster 1775 mit vollbesetztem Auditorium Herrn Prof. Dr. Alex W. Friedrich, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Münster (UKM), im Rahmen unseres Clubabends begrüßen. Nach dem gemeinsamen Abendessen stellte unsere Präsidentin Michaela Heuer den Referenten mit den wesentlichen Eckpunkten seines beruflichen Werdeganges und der Kernfrage, ob die Pandemie denn wirklich schon vorbei sei, vor.
Herr Prof. Friedrich antwortete, dass er dies nicht glaube und eröffnete das hochaktuelle Thema mit einer frei vorgetragenen Präsentation. Überraschend richtete Prof. Friedrich zunächst das Augenmerk auf die durch die Corona-Pandemie aufgedeckten Defizite bzw. den Reformbedarf des deutschen Gesundheitswesens. Herausfordernd sei das Wissen, dass 60 Prozent der menschlichen Gesundheit durch individuelles Verhalten und soziale Umstände determiniert seien und u.a. ‚nur‘ 11 Prozent durch die eigentlichen medizinischen Versorgungsstrukturen – ein Plädoyer für präventive Maßnahmen.
Die zunehmend alternde Bevölkerung, der medizinische Fachkräftemangel, Belastungen durch Infektionswellen durch Corona und die saisonale Grippe, ungenügende Informationsflüsse durch fehlende Digitalisierung und die Aufrechterhaltung der medizinischen Versorgung und der Notaufnahmen seien entscheidende Handlungsfelder im hiesigen Gesundheitssystem. Prof. Friedrich sprach sich in diesem Rahmen für eine Finanzierung der Notaufnahmen aller Krankenhäuser durch die öffentliche Daseinsvorsorge aus, weil diese unter Kostengesichtspunkten nicht wirtschaftlich zu führen seien. Des Weiteren müsse der Medizinexperte zukünftig per Video an den Ort des Patienten kommen, weil nicht jedes Krankenhaus alle Fachrichtungen vorhalten könne. Auch die Inanspruchnahme der medizinischen Leistungen durch Patienten zu jeder Zeit an jedem Ort müsse reformiert werden. Herr Prof. Friedrich erläuterte dabei die Unterschiede und Grenzen des deutschen und niederländischen Gesundheitswesens.
Der Referent widmete den zweiten Vortragsteil dem Coronavirus und der Pandemie. Der Kollaps des Gesundheitssystems sei die real größte Gefahr insbesondere der Infektionswelle 2020/21 gewesen. Kollektive Verhaltensweisen der Menschen würden weiterhin direkte Auswirkungen auf Einrichtungen des Gesundheitssystems haben. Hinsichtlich der Infektionsweitergabe könne zu 97 Prozent die Übertragung direkt oder durch Raumluft als gesichert angesehen werden. Dennoch sei die Übertragbarkeit und Überlebensfähigkeit des Coronavirus deutlich geringer im Vergleich zu Masern- oder Windpockenviren. Prof. Friedrich wagte die Voraussage, dass die Menschheit mit dem Virus ähnlich der Grippe leben müsse – und könne: Grundimmunisierung durch Impfungen und Erkrankungen einerseits und durch zur Verfügung stehende wirksame Medikamente im Erkrankungsfall andererseits gäben Hoffnung, mit dem Virus umzugehen. Eine ernstzunehmende Virusvariation sei alle 10 bis 30 Jahre zu erwarten.
Abschließend schilderte Prof. Friedrich die Auswirkungen der jetzigen Coronasituation am Beispiel des Universitätsklinikums: die Bettenzahl sei zu einem Drittel reduziert worden, acht Prozent der stationären Aufnahmen beträfen eigene Mitarbeiter, 10 bis 25% der Mitarbeiter fielen durch Coronainfektionen fortlaufend aus. Eine große Unbekannte seien Long-CoVID-Erkrankungen unter den eigenen Mitarbeitern mit dauerhaften Arbeitsunfähigkeiten. Das Ende des kurzweiligen Crossover-Vortrags mündete in eine intensiv genutzte Diskussionsrunde mit den Mitgliedern. Club-Präsidentin Michaela Heuer dankte dem Referenten mit der traditionellen Überreichung eines Präsentes – passend zum Vortrag mit dem Bildband „Faszination Wissenschaft“ von Herlinde Koelbl. Die gelungene Veranstaltung klang in geselliger Runde mit bemerkenswert längeren Tischgesprächen aus.
Dr. Peter Vogt