Unser Grundgesetz

Der große Saal im Zwei-Löwen-Klub war bis auf den letzten Platz besetzt, kein Wunder, da das Vortragsthema im Jubiläumsjahr des Grundgesetzes (75 Jahre) aktuell war und mit Prof. Rolf Stober ein zugkräftiger Referent aus den eigenen Reihen des CC zur Verfügung stand. Prof. Stober begann seinen Vortrag mit einem Rückblick in die Historie: Das Grundgesetz (GG) wurde 1949 vom Parlamentarischen Rat nur für einen Teil Deutschlands, nämlich die drei Zonen der westlichen Siegermächte des 2. Weltkriegs, erarbeitet; es wurde laut seiner Präambel als provisorische Regelung bis zu einer Wiederherstellung der deutschen Einheit verstanden und erhielt die Qualität einer Verfassung für ganz Deutschland erst 1990, und zwar in Form eines Beitritts der Länder der DDR zu seinem Geltungsbereich.

Daran anküpfend stellte der Referent an seinen Zuhörerkreis folgende Fragen: • Wer von Ihnen besitzt ein Exemplar des Grund- gesetzes? • Wer hat darin auch schon gelesen? • Wer hat sich mit dem Inhalt des Grundgesetzes intensiv befasst? Die bejahenden Antworten per Handzeichen waren in der Minderzahl mit zudem abnehmender Tendenz. Das entsprach Erfahrungen, die Prof. Stober schon früher bei einer Befragung von Schülern eines Berufsschulkollegs gemacht hatte. Er verließ nun das Rednerpult, wanderte mit dem Mikrophon durch die Reihen der Civilisten, ließ diese ihre iPhones und Smartphones zücken, eine Reihe von Artikeln des Grundgesetzes vorlesen und gab hierzu seine Kommentare, die teils einen humoristischen Unterton hatten, gelegentlich vielleicht auch ironisch gemeint waren und eine lockere Hörsaal-Atmosphäre entstehen ließen. Im Einzelnen: Ausgangspunkt war Art. 1 GG, eingeleitet wie folgt: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.

Damit wird ein Grundrecht auf Gewährleistung des Existenzminimums sowie auf soziale Teilhabe begründet. Die kürzliche Forderung von Bundesarbeitsminister Heil auf Erhöhung des Bürgergeldes lässt sich aus diesem Grundrecht aber nicht herleiten, so Prof. Stober, ebenso wenig die von studentischer Seite angemahnte Anhe- bung der BAföG-Sätze in entsprechendem Umfang. In Art. 16a GG heißt es: „Abs. 1: Politisch Verfolgte genießen Asylrecht. Abs. 2: Auf Absatz 1 kann sich nicht berufen, wer aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaften oder aus einem anderen Drittstaat einreist, in dem die Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge und der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten si- chergestellt ist …“

Das bedeutet, dass bloße Wirtschaftsflüchtlinge sich nicht auf das Asylrecht berufen können und es als Rechtsmissbrauch zu bewerten ist, wenn sie es dennoch tun, wie es in dem von Prof. Stober beispielhaft geschilderten Fall eines über Bulgarien eingereisten Flüchtlings geschehen ist. Angesichts der Überforderung der Gemeinden bei der Unterbringung und Integration zahlreicher Migranten habe sich schon Altbundespräsident Gauck wie folgt geäußert: „Unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich“. Art. 19 Abs. 4, Art. 20 Abs. 3 GG: Diesen Bestimmungen wird das sog. Rechtsstaatsprinzip entnommen. Es besagt nach Auffassung von Prof. Stober zum einen, dass der Staat dem Bürger die Möglichkeit verschaffen muss, von der Rechts- und Gesetzeslage Kenntnis zu nehmen, und zum anderen, dass der Staat sein Recht und Gesetz auch durchsetzen muss (Rechtsstaat zugleich Rechtsschutzstaat). Insoweit kritisierte der Referent die Vielzahl der Gesetze (2000 Seiten und mehr im alljährlichen Bundesgesetzblatt) und die Unübersichtlichkeit von Artikelgesetzen; das sind solche, in denen einzelne Bestimmungen ganz verschiedener Gesetze zusammengefasst werden.

Auch in alltäglichen Situationen sei der Bürger ge- oder überfordert, wenn er sein Verhalten an unbestimmten Rechtsbegriffen auszurichten habe; beispielsweise im Straßenverkehr, wenn durch Verkehrszeichen mit Zusatzschild bei „nasser“ Fahrbahn ein Tempolimit vorgeschrieben sei (über den Unterschied zu einer nur „feuchten“ Fahrbahn musste der Bundesgerichtshof entscheiden, Az. 4 StR 560/77 !!) oder wenn die zeitlich „angemessene“ Grenze bei der Nutzung eines „behaglicher Raumatmosphäre“ dienenden Herdfeuers eingehalten werden soll. Auf europäischer Ebene werde bei dem Erlass von Verordnungen das Subsidiaritätsprinzip missachtet (unrühmliches Beispiel ist die Regelung der Mindestlänge importierter Bananen). Seiner Schutzpflicht werde der Staat nicht gerecht, wenn laut Kriminalstatistik im Tagesdurchschnitt 290 Polizeikräfte Opfer von Gewalt würden und ähnliche Zahlen bei Feuerwehr- und Rettungsdiensten festgestellt würden, ohne dass hierauf mit entsprechenden Sanktionen reagiert werde.

Dies sei allerdings nicht dem Grundgesetz vorzuhalten, sondern einem mangelnden Vollzug wie schon bei der Asyl- und Migrationspolitik. Lob des Referenten erntete das Grundgesetz, weil es eine wehrhafte Demokratie stärke mit Regelungen z. B. über eine Verwirkung von Grundrechten (Art. 18), über ein Recht auf Widerstand zum Schutz der Verfassung (Art. 20 Abs. 4) und über ein Parteienverbot (Art. 21). Das Grundgesetz habe sich auch stets als resilient erwiesen; es sei wiederholt geändert und auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weiter-entwickelt worden: Als Beispiel sei Art. 20a zu nennen. Danach schützt der Staat „in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere …“ Mit Blick auf die Anforderungen des Klimaschutzes hat das Bundesverfassungsgericht den Freiheitsrechten des Grundgesetzes Wirkung zugunsten kommender Generationen zugesprochen. Im Klima- beschluss aus dem Jahre 2021 hat es die Konsequenz gezogen und geurteilt, dass die Verschiebung hoher Emissionsminderungslasten im Bundesklimaschutzgesetz auf Zeiträume nach 2030 verfassungswidrig sei.

Prof. Stober streifte sodann die aktuelle politische De- batte, in der es darum geht, ob nach Erfahrungen in Polen und Ungarn das Bundesverfassungsgericht vor einer Einflussnahme extremer Parteien geschützt wer- den sollte, etwa dadurch, dass Regelungen des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes über die Wahl der Richter in das Grundgesetz aufgenommen würden; dann sei auf Dauer besser gewährleistet, dass Verfassungsrichter nur mit einer Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundes- rat berufen werden könnten. Eine solche Änderung erscheint aber nicht naheliegend. Denn sie hätte zur Folge, dass eine Partei, die über ein Drittel der Stimmen in Bun- destag oder Bundesrat verfügt, die Verfassungsrichterwahlen blockieren könnte. Mit Überraschung nahmen die Civilisten den Hinweis des Referenten auf, dass in Bayern und Baden-Württemberg bereits Mitglieder der AfD zu („nicht berufsrichterlichen“ = ehrenamtlichen) Mitgliedern der Landesverfassungsgerichte gewählt worden seien, ohne dass dies besonderes Aufsehen erregt habe.

Prof. Stober warf abschließend die Frage auf, was das Grundgesetz denn nicht regele: Er bezeichnete es als ein „liebes“ Grundgesetz, weil es vielen Rechten der Bürger so gut wie keine Pflichten gegenüberstelle. An Pflichten sei nämlich nur die Wehrpflicht genannt (Art. 12a) und diese betreffe nur die Männer und sei obendrein auch seit dem Jahre 2011 ausgesetzt. Dies erscheine als Kontrast zu Art. 118 Abs. 1 der Verfassung des Freistaats Bayern, in dem es heiße: „Vor dem Gesetz sind alle gleich. Die Gesetze verpflichten jeden in gleicher Weise und jeder genießt auf gleiche Weise den Schutz der Gesetze.“ Auf den mit viel Beifall bedachten Vortrag folgte eine lebhafte Diskussion. Neben einer Reihe anderer Aspekte, die hier nicht sämtlich aufgegriffen werden können, wur- de thematisiert, wieweit im Schulunterricht Kenntnisse über das Grundgesetz vermittelt und so auch Jungwähler gegen Parolen der AfD immunisiert werden könnten. Darauf zielt § 2 Abs. 6 Nr. 6 des Schulgesetzes NRW mit der Forderung ab, „die Schülerinnen und Schüler soll[t] en insbesondere lernen, die grundlegenden Normen des Grundgesetzes und der Landesverfassung zu ver- stehen und für die Demokratie einzutreten“. Diese Vorgabe steht jedoch zunächst nur auf dem Papier, sie muss noch mit Leben gefüllt werden. Daher verdient Anerkennung, wenn eine Schule in NRW, wie aus dem Zuhörerkreis berichtet, im Leistungskurs Geschichte (Oberstufe) 8–10 Stunden Grundgesetz anbietet.

Im Blick auf kriminell in Erscheinung getretene Migranten und sog. „Gefährder“ wurde die Meinung vertreten. der Staat müsse in Wahrnehmung seiner Schutzpflichten mehr Abschie- bungen durchsetzen. Auf europäischer Ebene habe er darauf hinzuwirken, dass Entscheidungen der Europäischen Union nicht willkürlich von Mitgliedstaaten blockiert würden, was nach der Erweiterung der Union von ursprünglich sechs auf inzwischen 27 Staaten zum Problem geworden sei. Es sei misslich, wenn man sich dann mit Tricks helfe wie jüngst, als ein Beschluss über weitere Ukrainehilfen nur zustande gekommen sei, indem man eine kurze Abwesenheit des ungarischen Ministerpräsidenten (Kaffeepause) zur raschen Abstimmung ohne ihn ausgenutzt habe.

Die Präsidentin Michaela Heuer dankte Prof. Stober für seinen hervorragenden Vortrag, den Clubmitgliedern für die rege Diskussion und zog mit allseitiger Zustimmung das Resümee, dass unser Grundgesetz sich rundum bewährt habe, dies allein aber nicht genüge, wenn sich die Bürger mehrheitlich gegenüber seinen Werten wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gleichgültig verhielten statt sich damit zu identifizieren und engagiert dafür einzutreten. DR. KLAUS HEVELING